Überspringen zu Hauptinhalt

Tim und Tinder

Ob ich wohl der einzige Mann Mitte dreißig bin, der sich noch nie überlegt hat Tinder zu nutzen? Na klar ist es einfach Menschen erstmal nur nach ihrem Aussehen zu beurteilen. Ich möchte mich auch keineswegs davon freisprechen, dass eine gewisse Attraktivität, auch wenn die bekanntlich im Auge des Betrachters liegt, ein absolutes Muss ist, wenn ich eine Frau wiedersehen möchte. Aber anhand von nur einem Bild, einer Momentaufnahme ein Urteil bezüglich eines potentiellen Partners zu treffen, halte ich doch für anmaßend.

Falsch. Sagt Tim. Nach langem Schweigen, wenig Kontakt und grundlegender Ablehnung von Tim und seinem Charakter, kam ich nicht umher ihn am Freitag zu sehen. Er hatte Geburtstag. Man muss klarstellen, dass ich immer nur die schlimmsten Geschichten und Charakterzüge aufzähle. Trotz aller nervigen Angewohnheiten, trotz einem Lebenswandel, den ich langsam aber sicher einfach nicht mehr nachempfinden kann, gehört Tim immer noch zu einem meiner besten Freunde. Was vermutlich auch daran liegt, dass Freunde, insbesondere gute Freunde, ohnehin Mangelware in meinem Leben sind. Natürlich hat man den einen oder anderen Kumpel, ob nun Arbeitskollegen oder frühere Freunde, aber nach meiner Trennung musste ich mit Erschrecken feststellen, dass ich sehr wenig mit der Pflege meiner sozialen Kontakte zu tun hatte. Tatsächlich konnte ich alle engeren Freunde den Bemühungen meiner Ex-Freundin zuordnen. Denn es waren nicht nur ihre Freunde von Beginn an, nein sie pflegte auch alle Kontakte, organisierte sämtlich Zusammenkünfte und erinnerte mich an jeden verdammten Geburtstag. In der Trennung hat sie konsequenterweise auch das Sorgerecht für ihre Freunde erhalten. Man schreibt sich also hin und wieder mal auf Facebook oder schickt sich vermeintlich lustige Bilder hin und her, als Freundschaft aber kann ich dies nicht bezeichnen.

Tims Geburtstag also. Er wollte eine kleine Soiree veranstalten. Schon dieser Sprachgebrauch brachte mich wieder an die Grenze ihm eine reinzuhauen. Warum kann man nicht Party sagen? Angekommen war es schon sehr voll und ich scheinbar alleinig noch nüchtern. Das musste schleunigst geändert werden. Als ich durch die Menge an Menschen hindurch Tim gefunden hatte, berichtete er mir voller Stolz, dass er alle Frauen, die ich in diesem Raum sehen würde, auf Tinder kennengelernt hatte. Warum er nicht schon so viel früher mit diesem tollen Zeitvertreib angefangen hatte. Diese Frauen waren alle so „willig“, wie er es ausdrückte. Hier fing seine fast 15-minütige Erklärung an, warum es keinen besseren Weg geben würde, Frauen kennenzulernen. Man müsse sich nur auszudrücken wissen. Scheinbar haben die wenigsten Männer, die auf Tinder nach einem Partner suchen, die Fähigkeit komplette Sätze, ohne vulgäre Worte zu benutzen. Tims große Stunde sozusagen. Er hat nicht umsonst jeden Studiengang der mir auf Anhieb einfällt ein Semester lang studiert. Er kann sich ausdrücken, kann Menschen lesen wie Bücher und hat auf so ziemlich jedem Gebiet gefährliches Halbwissen angehäuft. Genug um reihenweise Frauen davon zu überzeugen, dass er der Richtige ist.

Ich musste mich nach der Ankunft schleunigst zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Nach einer Stunde nach Hause gehen oder sich die ganze Parade schön trinken. Da ich unbedingt wissen wollte, wie dieses soziale Experiment ausgeht, blieb ich und trank. Leider blieb der große Crash aus. Schade. Ich dachte es würden mindestens ein paar Tränen und vielleicht Fäuste fliegen, wenn sich herausstellt, dass Tim alle Frauen über Tinder kennengelernt hatte. Aber nein, es blieb friedlich. So friedlich, dass es sogar zu einer guten Party wurde, weswegen der Alkohol irgendwann von mir Besitz einnahm.

Als ich irgendwann in den frühen Morgenstunden in mein Bett fiel, hatte ich gerade noch den Geistesblitz das angesetzte Date mit Jasmin am Samstag abzusagen. Letztlich nahm sie es mir nicht mal übel und wir verschoben es einfach auf Montag. Was eine Frau…

An den Anfang scrollen